Der jüdische Friedhof Quedlinburg
Die ursprüngliche Friedhofsanlage ist nach dem Krieg noch erkennbar.
Einer der verschwunden Grabsteine (Foto aus einer Dokumentation der NS Behörden)
Quedlinburger besuchen den verwüsteten Friedhof nach dem Krieg (ca. 1946)
Als die Initiative Jüdischer Friedhof Quedlinburg 2019 begann, Informationen über den Friedhof zusammen zu tragen, ist sie im Halberstädter Kreisarchiv auf sehr umfangreiches Material gestoßen. Dr. Manfred Kummer (1931-1999) Pflanzengenetiker und Pflanzenzüchter aus Quedlinburg hatte es sich nach dem Mauerfall 1989 bis zu seinem Tod 1999 zur Aufgabe gemacht, sämtliche Dokumente über Jüdisches Leben in Quedlinburg und Umgebung zusammenzutragen und die Hinterbliebenden haben sie dann dem Kreisarchiv überlassen. Aus den Akten ist Folgendes zu entnehmen:
Der Friedhof wurde 1813 mit 625 Quadratmetern für 10 Taler erworben und 1814 mit circa 150 Grabstellen angelegt, aber offenbar nicht ins Grundbuch eingetragen. Das Gelände hatte früher als Bleicheplatz gedient. In der Pogromnacht von 1938 verwüsteten ihn die Nazis, besonders die Osthälfte, zerstörten ihn jedoch nicht vollständig. Viele Grabsteine der etwa 150 Grabstellen blieben erhalten, 30 auf der Westhälfte wurden fotografiert. Trotzdem fanden danach keine Beerdigungen mehr dort statt. Vier Jahre später, 1942, interessierte sich ein Quedlinburger Samenzüchter für das „Gelände“ unter der Behauptung, der Friedhof wäre Jahrzehnte vorher seinem Vater überlassen worden. Er wollte dort eine Wohnbaracke für seine landwirtschaftlichen Arbeiter errichten und es dafür kaufen oder pachten. Der damalige NS-Oberbürgermeister verweigerte ihm das, weil der Friedhof Reichseigentum geworden war. Die Reichsvereinigung der Juden in Deutschland hat im Mai 1943, (also nachdem die systematische Ermordung des jüdischen Volkes in Vernichtungslagern auf der Wannseekonferenz schon beschlossen und in vollem Gange war) beantragt, das Grundstück mit dem Friedhof kaufen zu dürfen. Daran wird deutlich, welchen besonderen Stellenwert ein Friedhof im Judentum einnimmt. Dieser Antrag wurde abgelehnt, unter der Berufung auf das Ziel, die „Verbindung von deutschem Grund und Boden mit den Juden für immer zu lösen“.
Nach dem Zweiten Weltkrieg 1946/47 wurde der Friedhof von einigen Quedlinburger Bürgern aufgeräumt und so weit möglich wieder in Stand gesetzt. Damals gab es noch etwa 60 bis 70 Gräber mit Grabsteinen. In den 1960er Jahren wurde der Friedhof durch Unbekannte geschändet, viele Grabsteine wurden zerschlagen, besonders wertvolle Grabplatten gestohlen. Der Friedhof war nicht mehr geschlossen und so wurden immer wieder Grabsteine umgeschmissen und entwendet, Kinder benutzten den Friedhof als Spielplatz, Jugendliche als Treffpunkt.
Beschwerden, nicht nur von jüdischer Seite, häuften sich. Der Rat der Stadt unternahm nichts, weil er sich nicht zuständig sah. Die Synagogen-Gemeinde Magdeburg, Rechtsträger des Jüdischen Friedhofs, überwies jährlich 1500 Mark, insgesamt 56 000 Mark in 37 Jahren, zur Pflege und Instandhaltung des Friedhofs an den Rat der Stadt Quedlinburg. (Was mit dem Geld genau geschehen ist, ist noch unklar). 1970 und ´71 unternahm die Stadt noch einen Reparaturversuch, bevor der Friedhof 1972 zum dritten Mal mutwillige zerstört wurde. 1974, der Friedhof war mittlerweile schon sehr zugewachsen und verwahrlost, beschloss der Rat der Stadt Quedlinburg eine sogenannte Neugestaltung und beauftragte damit den VEB Grünanlagenbau. Zu Baubeginn, 1976, existierten noch rund 40 Grabsteine, 1977 keine mehr. Aus dem Friedhof war eine Rasenfläche geworden.
Man hatte vom Ernst-Thälmannplatz einen Granitblock aus der Kaiserzeit geholt und als Gedenkstein ohne Inschrift aufgestellt. Die alte Schrift darauf hatte ein Steinmetz entfernt. Die Synagogen-Gemeinde wollte dort die Mahnung: „Nie wieder Rassismus“ eintragen lassen, das wurde jedoch abgelehnt. Um einen Davidstern musste die Gemeinde kämpfen. 1987 veränderte sich die politische Lage, weil die DDR sich auf die Gedenkfeiern zum 40. Jahrestag des Novemberpogroms vorbereitete. Das Tor, die Gedenktafel und der Davidstern wurden erneuert. Ein Pflegevertrag zwischen Synagogen-Gemeinde und Stadt über 1100 Mark jährlich trat in Kraft. Danach geriet der Friedhof wieder in Vergessenheit und blieb für die Öffentlichkeit weiter unzugänglich. 1988 organisierte der junge Diakon Hans-Christoph Jäkel zum 9. November eine mehr oder weniger inoffizielle Gedenkfeier mit Kerzen auf dem Friedhof. Seit dieser Zeit findet sie regelmäßig unter der Leitung der Ev. Kirchengemeinde Quedlinburg statt. Der Oberbürgermeister und ein Pfarrer halten mit musikalischer Umrahmung Reden und ein Kranz wird am Gedenkstein niedergelegt.
Nach dem Mauerfall fand außerdem eine intensive Instandsetzung des Friedhofareals statt. Davidstern, Inschriften und Eingangstafel wurden nochmals erneuert, Bäume und Sträucher ausgelichtet. Nach der Gründung des Landesverbandes Jüdischer Gemeinden Sachsen-Anhalt im Jahr 1994 fiel der jüdische Friedhof in Quedlinburg in dessen Verantwortung. Er begann mit der Pflege im Jahr 1998. Seitdem kümmerte sich Herr Gerhard Schmidt, Inhaber der Firma „P.J. Schmidt Samenzucht“, in Absprache mit dem Landesverband, bis zu seinem Tod 2019 um die Instandhaltung des Friedhofs. Er beschnitt die Bäume und Sträucher, mähte den Rasen.
<-- Aufräumarbeiten nach dem Krieg.
Die Bedeutung der Friedhöfe im Judentum
Eine jüdische Gemeinde wird immer bestrebt sein, das Friedhofsgelände zu kaufen und nicht bloß zu pachten, um die Totenruhe für alle Zeiten zu sichern. Deshalb gibt es auch sehr alte jüdische Friedhöfe. Denn die mosaische Religion lehrt, dass Gott am sechsten Tag der Schöpfung die Seelen aller Menschen erschuf. Sie warten auf den ihnen vorherbestimmten Körper und darauf geboren zu werden. Nach dem Tod entsteigt die Seele wieder ins Paradies und der Körper kommt unter die Erde. Am Tag der Auferstehung, wenn alle Seelen einmal in ihren Körpern gelebt haben und wieder im Paradies angekommen sind, werden sie erneut mit ihren ehemaligen Körpern vereint und treten ein in das Ewige Leben bei den Vätern und bei Gott. Die Auferstehung wird von einer neuen Zeit eingeleitet, nämlich dann, wenn der Messias kommt und das Volk Israel von allem Unheil erlöst. Er wird die vollkommene Gottesherrschaft durchsetzen. Bei dieser Erneuerung der Welt werden die Toten auferstehen. Das heißt, die Friedhöfe spielen sowohl für das Eingehen in das Ewige Leben als auch für die Erwartung des Messias eine große Rolle und sind in ihrer Unantastbarkeit absolut indiskutabel. Ein jüdisches Grab wird nur ein einziges Mal benutzt, für die Ewigkeit. Wird es zu eng auf dem Friedhof, geht man dazu über, die Toten übereinander zu bestatten. So heißt ein jüdischer Friedhof Bet Ha Chajim - Haus des ewigen Lebens, Bet Ha Kewarot – Haus der Gräber oder Bet Olam – Ewiges Haus. Er liegt meistens außerhalb der Stadtmauer oder des Shtetls, ist von einer festen Friedhofsmauer umgeben und hat oft am Eingangstor eine Gebetstafel.
Auf jedem jüdischen Friedhof gibt es einen Raum, der die Beisetzungsgegenstände aufbewahrt und in dem die Toten gewaschen werden können.
Es ist üblich, nach der Beendigung des Trauerjahres einen Grabstein zu setzen. Danach gehört es zu den religiösen Pflichten, mindestens einmal jährlich das Grab eines toten Angehörigen aufzusuchen und einen kleinen Stein aus der Umgebung auf den Grabstein zu legen. Für diesen Brauch gibt es mehrere Erklärungen. Es zeigt zum Einen, dass man an den Toten denkt und gedacht hat und ihm Ehre erweist. Aber es erinnert auch daran, dass man zur Zeit des Auszugs aus Ägypten die Gräber mit Steinen beschwerte, damit die wilden Tiere die Körper nicht fressen und die Totenruhe stören konnten. Der kleine Stein symbolisiert die Heiligkeit des Grabes. Aber es wird auch davon gesprochen, dass so ein Stein an die jerusalemer Tempelmauer erinnern soll. Eventuell sind die Gründe auch pragmatischer Natur: zu Zeiten, in denen Friedhöfe noch nicht üblich waren, hat man mit kleinen Steinen die Begräbnisplätze markiert. Die Grabsteine wohlhabender Verstorbener bekommen Inschriften, die von Armen nicht. Aber ein Grabstein muss gesetzt werden, um die Ruhestätte klar zu kennzeichnen.
In Sachsen-Anhalt existieren jetzt noch 60 jüdische Friedhöfe, davon wird auf vier noch bestattet, auf zwei weiteren ist eine Bestattung aus religiöser Sicht erlaubt. Von etwa sechzehn weiteren Friedhöfen ist die Existenz bzw. ursprüngliche Lage bekannt, aber sie wurden entweder überbaut oder befinden sich im Privateigentum.
Bild unten: Hauptweg ca. 1946