Juden wurden in ihrer Geschichte immer wieder aus ihren Siedlungsgebieten vertrieben. Insbesondere nach ihrem gescheiterten Aufstand gegen die römische Zwangsherrschaft in den Jahren 66 bis 70 n.Chr. wurden sie versklavt oder verließen ihre Heimat in Palästina. Viele Juden wanderten über Nordafrika oder Italien in das westliche Europa ein. Obwohl schon Juden im heutigen Deutschland unter römischer Herrschaft nachweisbar sind, kam erst im 10. und 11. Jahrhundert eine nennenswerte Zahl jüdischer Kaufleute aus Südfrankreich und Italien in rheinische Städte wie Köln, Mainz, Speyer oder Worms. Deutlich später wird von jüdischem Leben in Mitteldeutschland berichtet. In Halberstadt gab es im Jahr 1146 jüdische Einwohner, während die jüdische Besiedlung in Quedlinburg etwas ungenauer mit der Wende vom 12. zum 13. beschrieben wird, auch wenn es Vermutungen für eine frühere Zuwanderung gibt. Für die Stadt Quedlinburg wird das Gebiet um den Weingarten als Nukleus der jüdischen Besiedlung angesehen. Hier gab es einen jüdischen Friedhof, Wohnhäuser und später wohl auch eine kleine Synagoge. Zudem wird von einer jüdischen Schule in Dokumenten berichtet, auch wenn deren Lage nicht eindeutig benannt werden kann.
Rechts: Blick in die Jüdengasse in der Innenstadt von Quedlinburg. Foto: Olaf Meister
Wie auch in anderen Städten wurden Juden – mit Unterbrechung durch kurze tolerantere Phasen - immer wieder diskriminiert. So mussten sie sich nach dem 4. Laterankonzil im Jahr 1215 durch ihre Kleidung als Juden zu erkennen geben: spitzer Hut und ein gelber Stofffleck am Obergewand, der als Vorläufer des Judensterns in der Ära des Nationalsozialismus gelten kann. Zudem gab es in Quedlinburg während des 3. Kreuzzuges (1189 – 1192) als auch während der Pest von 1348 – 1350 Pogrome mit etlichen Todesopfern. Im Gegensatz zu diesen Verfolgungen stand das vom Kaiser eingeräumt Kammerrecht, das privilegierte Juden unter Schutz stellte, gleichzeitig aber ihre wirtschaftliche Leistungsfähigkeit ausnutzte. Dieses Kammerrecht wurde von den Quedlinburger Äbtissinnen bis zur Auflösung des Stiftes im Jahr 1802 vergeben. In weiten Teilen des heutigen Deutschlands leitete der Große Kurfürst nach dem Westfälischen Frieden von 1648 gegenüber den jüdischen Bewohnern seines Herrschaftsgebietes eine liberale Politik ein. In Halberstadt wurde mit dem sogenannten „Generalgeleit“ der jüdische Handel liberalisiert, der Bau von Synagogen gestattet und das „Schlachten nach ihrer Art“ geduldet. Die Quedlinburger Kaufleute betrachteten Juden hingegen nicht als Unterstützer der heimischen Wirtschaft, sondern eher als Konkurrenten. Mit dem Concordienrezess von 1695, einem Bündnis von Schutzherrn und Äbtissin, wurden alle Juden, bis auf drei unter Schutz gestellte, aus Quedlinburg vertrieben. Erst mit der napoleonischen Fremdherrschaft und der damit einhergehenden Eingliederung der Stadt in das Königreich Westfalen kam es zu einem nennenswerten Zuzug jüdischer Familien nach Quedlinburg. Zur Zeit der Befreiungskriege lebten knapp 50 Juden in Quedlinburg. Sie waren mit Aufhebung der mittelalterlichen Kammerknechtschaft eingeschränkt gleichberechtigte Bürger der Stadt. Die letzten Diskriminierungen wurden schließlich mit der Reichsverfassung von 1871 aufgehoben. Zur Zeit des Jahrhundertwechsels stieg die Zahl der Juden auf ca. 110, also absolut wie auch relativ deutlich weniger als in Städten wie Köln, Berlin oder Halberstadt. Auch wenn es in der jüngeren Vergangenheit keine Synagogen in Quedlinburg und keine eigenen Rabbiner gab, so traf man sich ersatzweise in Betlokalen, die sich in Hölle 5 (1820-1903), in der Franziskanerkapelle in der Schulstraße (1930-1905), in Klink 11 (1905-1922), in der Blasiistraße 13 / Carl-Ritter-Straße (1922-1930) und später in der Goldstraße 25 befanden. Immer wieder kamen auch Rabbiner aus Halberstadt in diese Betlokale. Auffällig ist, dass in Quedlinburg eine lebhafte Zu- und Abwanderung jüdischer Familie zu beobachten ist, so dass deren Geschichte in der Stadt nur in wenigen Fällen über mehrere Generationen hinweg nachgezeichnet werden kann. Gerade Anfang der 1930er Jahre setzten sich viele in die prosperierenden Großstädte ab; nach der Machtübernahme der Nazis im Jahr 1933 verstärkte sich der Trend zur Abwanderung.
Bild links: ehmaliger Standort einer Synagoge (Straße Hölle, nahe Jüdenstraße. Die Gedenktafel ist unten zu sehen).
Nach und nach wurde die jüdische Bevölkerung schikaniert, durch Boykotte ihrer Geschäfte, durch Entlassungen, durch ein Nutzungsverbot von öffentlichen Einrichtungen, durch die Zwangsverkäufe an „arische Volksgenossen“, die sogenannte „Arisierung“, und später durch die Deportationen in die Ghettos und Vernichtungslager.
Noch vor der Pogromnacht am 9. November 1938 lag in Quedlinburg auf Anordnung Reinhard Heydrichs eine „Judenkartei“ vor. Sie war fehlerhaft und unvollständig, was denjenigen Juden zunächst zugute kam, deren Namen nicht aktenkundig waren. In der Pogromnacht am 09. November 1938 wurden Mitglieder der Hitlerjugend in der Langen Gasse darin eingewiesen, wie sie jüdische Geschäfte zu zerstören hatten. Die Läden wurden geplündert und deren Inhaber geschlagen. Auch der jüdische Friedhof wurde verwüstet. Einige Juden brachten die Nationalsozialisten als sogenannte „Novemberjuden“ in das Konzentrationslager Buchenwald: Hans Sachs, Dr. Mane Weinberg, Hugo Koßmann und Karl Ackermann. Sie wurden nach Schikanen zunächst wieder entlassen, da die Nationalsozialisten mit dieser ersten Verhaftungswelle Juden zunächst nicht physisch vernichten, sondern sie zur Emigration bewegen wollten. So verließen in den Dreißiger Jahren auch viele Quedlinburger Deutschland, um in England, Kanada, USA oder Palästina Zuflucht zu finden. Einige Juden überlebten den Holocaust in der Stadt, zum Teil versteckt durch andere Einwohner. Der größere Teil von ihnen starb jedoch in den Ghettos und Konzentrationslagern oder sie begingen Selbstmord, um der Deportation und der zu erwartenden Ermordung zu entgehen. Die jüdische Gemeinde Quedlinburg existierte 1945 nicht mehr. Mit dem Maler, Gewerkschafter und Sozialdemokraten Leo Haber starb im April 2001 der letzte der Quedlinburger Juden. Viele Dokumente sind heute nicht mehr auffindbar. Einige Akten liegen aber heute noch im Quedlinburger Stadtarchiv, im Landeshauptarchiv Magdeburg und im Bundesarchiv. Zudem betreibt die Gedenkstätte in Yad Vashem eine gut strukturierte digitale Datenbank. Die Quedlinburger gedenken ihrer jüdischen Einwohner durch Hinweistafeln, Stolpersteine, Gesprächsrunden und thematischen Führungen, durch Gedenken innerhalb der Friedensdekade der evangelischen Kirche, durch das Projekt, den jüdischen Friedhof partiell zu rekonstruieren und durch die von der Stadt und allen Kirchen gemeinsam gestalteten Gedenkfeiern jeweils am 9. November auf dem jüdischen Friedhof.
Dr. Eberhard Brecht, November 2019
Anmerkung: Auf eine Quellenangabe wurde in diesem Beitrag verzichtet. Eine solche findet sich u.a. in zwei Broschüren:
· Eberhard Brecht, Manfred Kummer: Juden in Quedlinburg. Band 7 Reihe „Geschichte, Ende und Spuren einer ausgelieferten Minderheit“, Verein zur Bewahrung jüdischen Erbes in Halberstadt und Umgebung e.V., Halberstadt (1996)
· Eberhard Brecht: Zerstörte Lebenswelten – Juden in Quedlinburg 1933-1945, Mitteldeutscher Verlag Halle (2. Auflage, 2019)